top of page

Zwischen Stärke, Erinnerung und der Frage, wer wir sein wollen

  • christophmatthes86
  • 20. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Der fünfte Tag begann leiser.

Nicht, weil weniger Programm anstand – sondern weil in mir weniger Worte übrig waren.

Die Tage davor hatten Spuren hinterlassen, und trotzdem merkte ich beim Frühstück: Israel hat immer noch mehr zu erzählen, mehr zuzumuten, mehr zu offenbaren.

 

World Jewish Sports Museum – Stärke in einer anderen Sprache

Um 9:30 Uhr standen wir im World Jewish Sports Museum, dem einzigen seiner Art weltweit.

Ein Museum, das nicht von Schmerz erzählt – sondern von Kraft.

 

Von jenen jüdischen Sportlerinnen und Sportlern, deren Geschichten oft untergegangen sind, weil die Welt ihre Namen nicht bewahren wollte.

 

Zwischen Medaillen, Trikots, Fotos und Artefakten aus über einem Jahrhundert lag eine stille Wahrheit:

Jüdische Stärke wurde jahrzehntelang kleingeredet oder ausgelöscht – aber sie war immer da.

 

Amir Gissin, CEO von Maccabi World Union, sprach mit einer Mischung aus Stolz und Ernst.

 

Er erzählte von Sport als Identität, als Überleben, als Brücke.

 

Von jüdischen Athleten, die trotz Ausgrenzung Weltrekorde brachen.

 

Von Maccabi-Wettkämpfen, die mehr waren als Spiele – sie waren Widerstand gegen die Erzählung, Juden seien Opfer, nie Helden.

 

Während er sprach, sah ich auf ein Foto aus den 1930ern: jüdische Sportler in Deutschland, die noch nicht ahnten, wie nah die Dunkelheit bereits stand.

 

Wer ihre Trikots ansieht, sieht Geschichte – wer ihre Augen ansieht, sieht Mut.

 

Moran Samuel – eine Frau, die mehr ist als jede Medaille

Der nächste Programmpunkt war einer, der mich unvorbereitet traf.

Moran Samuel.

Basketballspielerin.

Rollstuhlbasketball-Nationalspielerin.

Paralympics-Medaillengewinnerin.

Ruder-Weltmeisterin.

 

Und vor allem:

Ein Mensch, der die Definition von „Stärke“ neu schreibt.

 

Sie erzählte von dem Tag, an dem ihr Leben „vorher“ und „nachher“ bekam – eine plötzliche Rückenmarkserkrankung, die sie von einem sportlichen, gesunden Leben in die völlige Lähmung warf.

 

Und dann dieser Satz, den ich nie vergessen werde:

„Ich habe nicht mein Leben verloren.

Ich habe ein neues bekommen.“

Ihre Geschichte war kein Motivationsvortrag.

Kein „Du schaffst das schon“.

Es war eine Lehrstunde in Kampfgeist.

 

Wie sie das Rudern fand.

Wie sie Weltmeisterin wurde.

Wie sie bei der Medaillenzeremonie die falsche Nationalhymne gespielt bekamen – und sie kurzerhand selbst zu singen begann.

 

Eine Frau, die nicht nur im Sport Geschichte schreibt.

Sondern im Menschsein.

 

Mittagspause – aber eigentlich ein Innehalten

Im Kfar Maccabiah Hotel gab es Mittagessen, aber ehrlich gesagt:

Die Gespräche mit Moran hallten länger nach als jeder Teller.

Es war einer dieser Momente, in denen man merkt, wie klein die eigenen Ausreden sind und wie groß das, was möglich wäre.

 

Yossi Avni-Levy – ein Diplomat, der in Wunden schreibt

Am Nachmittag trafen wir Yossi Avni-Levy.

Diplomat.

Botschafter.

Schriftsteller.

Sapir-Preisträger.

 

Ein Mann, der schreibt, als würde er seelische Röntgenbilder machen.

 

Er sprach über Identität, Sexualität, Heimat, Exil.

Über die Melancholie Jerusalems und die Brutalität des Lebens an den Grenzen.

Über das Schreiben als Waffe, als Pflaster, als Spiegel.

 

Seine Worte waren poetisch und gleichzeitig politisch.

Niemals laut, aber gefährlich präzise.

Er sagte einen Satz, der mich seitdem begleitet:

„Schreiben ist Erinnerung, aber auch Verantwortung.

Es entscheidet, wer in der Geschichte bleibt – und wer aus ihr verschwindet.“

 

Es fühlte sich an wie eine Brücke zu Yad Vashem.

Und wie ein Echo dessen, was wir am Tag zuvor im Nova-Memorial gesehen hatten.

 

Tel Aviv Bauhaus – Schönheit als Überlebensstrategie

Um 17:30 Uhr standen wir in der „White City“ – 4.000 Gebäude im Bauhaus- und International Style, gebaut von jüdischen Architekten, die vor den Nazis flohen.

 

Die Häuser sind hell, klar, rational.

Als wollte die Architektur selbst sagen:

Hier beginnt etwas Neues.

Hier darf Leben wieder leicht sein.

Man sieht in diesen Fassaden die Handschrift Deutschlands – aber in einer Version, die überlebt hat, weil sie fliehen musste.

 

Die White City ist schön.

Sie erzählt aber auch von Verlust, Exil und einem Neuanfang, der immer etwas Traurigkeit in den Wänden trägt.

 

Abend in Tel Aviv – Kultur als Herzschlag

Nach einem gemeinsamen Abendessen folgte ein letzter Programmpunkt:

Piano Night mit Moshe Beker.

 

Er spielte deutsche, israelische und mittelöstliche Melodien –

eine Musik, die zeigt, wie nah Orient und Okzident eigentlich sind,

wenn Hass nicht dazwischensteht.

 

Seine Musik war nicht ein Trost sondern nach all den Tagen der emotionalen Achterbahn eigentlich eine völlig überzogen, lustiges Kontrastprogramm.

Nicht laut, nicht grell, sondern albern und warm.

Wie ein Atemzug, den man nach schweren Tagen plötzlich wieder spürt.

 

Was bleibt von Tag 5?

Es war ein Tag, der weniger schmerzte als die vorherigen – aber mehr fragte.

Ein Tag über Stärke:

– die sichtbare im Sport

– die stille im Alltag

– die literarische im Schreiben

– die architektonische im Überleben

– und die musikalische im Zusammenfinden

 

Ein Tag, der zeigte, dass jüdisches Leben nicht nur Erinnerung an Leid ist, sondern eine triumphale, unzerstörbare Lebenskraft.

 

Ein Tag, der lehrte:

Stärke ist nicht das Gegenteil von Verletzlichkeit.

Stärke ist, weiterzumachen – trotz Verletzung.

 

Tag 5 war leichter.

Aber nicht weniger tief.

Und er war einer dieser Tage, auf die man später zurückschaut und sagt:

Hier habe ich nicht nur verstanden, was Menschen tun können – sondern wer sie sein können.

 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Ein Abschied, der keiner sein will

Der letzte Morgen in Tel Aviv fühlte sich an wie der Moment nach einem Gewitter: Die Luft war klar, aber schwer. Die Sonne stand über dem Meer, als wäre hier alles normal – dabei hatte diese Woche uns

 
 
 

Kommentare


bottom of page