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Zwischen dem Haus des Präsidenten, Bibliothek der Welt und der Tanz in den Tod

  • christophmatthes86
  • 18. Nov.
  • 8 Min. Lesezeit

Der dritte Tag begann nicht mit dem offiziellen Programm, sondern mit einer Suche.


Ich wollte in einen Morgengottesdienst an der Via Dolorosa, irgendwo zwischen der ersten und zweiten Station des Kreuzwegs. Es klang in meinem Kopf so logisch: Wenn man schon hier ist, dann muss man doch den Tag mit einem Gebet beginnen, mit einem Stück Liturgie, mit etwas, das diesen Ort innerlich sortiert.


Nur: Ich habe die Kirche nicht gefunden.


Enge Gassen, geschlossene Türen, Schilder, die in alle Richtungen zeigen – nur nicht dahin, wo ich hinwill. Es war, als würde die Stadt mir sagen: „Glauben ist kein Programm. Glauben ist ein Suchen.“ Am Ende stand ich in einer Seitengasse, hörte irgendwo entfernt Gesang, fand den Eingang aber nicht.


Kein Gottesdienst. Kein Kreuzweg. Kein liturgischer Haken dahinter.


Nur dieser eine Gedanke, den ich mir selbst halb tröstend, halb trotzig zusprach: Der Wille zählt.


Vielleicht war das der rote Faden des ganzen Tages.


Nach einem eiligen Frühstück saß ich im Bus. Koffer verstaut, Check-out erledigt, und auf einmal kippte die Atmosphäre von kulturell zu politisch. Ziel: die Residenz des israelischen Staatspräsidenten.


Der Weg dorthin wirkte fast unspektakulär. Ein Wohnviertel, Sicherheitskontrollen, ein gepflegter Garten. Und doch hatte man das Gefühl, plötzlich mitten in einer Schaltzentrale der Geschichte zu stehen.


Isaac Herzog empfing uns nicht wie eine anonyme Delegation, sondern wie Menschen, die er braucht. Er sprach von Deutschland nicht als „Partner“, sondern als Freund, als Land, mit dem Israel eine Beziehung aufgebaut hat, die vor 80 Jahren undenkbar gewesen wäre.


Er erzählte von Bundespräsident Steinmeier, von gemeinsamen Begegnungen, von der Reise zum 60-jährigen Jubiläum der Beziehungen. Und dann zog er die Linie weiter:

– Vom alten Rom bis heute – das jüdische Volk, das überlebt hat. – Von Jerusalem nach Ramallah, nach Amman – ein winziger Radius, in dem sich Weltpolitik verdichtet. – Vom Iran, der nicht nur Israel, sondern „uns alle“ bedroht.


Er beschrieb Israel als Bollwerk – nicht im pathetischen Sinn, sondern als nüchternen Satz: Ein demokratischer Staat, der an der vordersten Front steht, wenn es darum geht, die freie Welt gegen eine Ideologie zu verteidigen, die kein anderes System neben sich duldet.


Dann kam der Blick nach Gaza. Herzog sprach von der UN-Resolution, von der Idee, eine internationale Kraft einzusetzen, die Hamas entwaffnen soll. Vom Wiederaufbau. Von einem Leben in Würde – auch für die Menschen in Gaza. Es war kein weichgespültes Friedensplakat. Es war eher: Frieden, aber ohne Illusionen.


Und immer wieder fiel dieses Wort: Verantwortung.


Nicht als Moralkeule, sondern als Matrix: – Verantwortung Israels, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. – Verantwortung Europas, nicht nur zuzuschauen. – Verantwortung Deutschlands, „Nie wieder“ nicht als historisches Zitat zu benutzen, sondern als Handlungsprinzip.


Besonders hängen blieb ein Gedanke, als er über Wehrpflicht und junge Generationen sprach: Dass es etwas gibt, das größer ist als der eigene Komfort. Und dass genau diese Einsicht eine Gesellschaft zusammenhalten kann – oder eben zerfallen lässt.


Wir saßen dort als junge (oder jung gebliebene) Leute aus Deutschland, und man merkte: Er redet nicht über „die Deutschen“. Er redet mit uns.

Und ich dachte zurück an den Morgen in der Via Dolorosa. Vielleicht ist Verantwortung genau das: Suchen, auch wenn man den Eingang nicht sofort findet.


Danach wechselte die Kulisse, aber nicht die Tiefe.


In der Nationalbibliothek Israels standen wir zwischen Millionen Büchern – Geschichten, Manuskripten, Nachlässen. Ein Gedächtnisraum der Welt, über mehrere Etagen gezogen.

Wer am Tag zuvor in Yad Vashem war, sieht Bücher anders. Dort haben Ordner gefehlt, Namen, Gesichter. Hier stehen Regale, bis oben voll mit allem, was Menschen gedacht, geschrieben, überliefert haben.


Wir sprachen mit der Schriftstellerin Zeruya Shalev, deren Romane sich oft um Verletzungen, Beziehungen, Traumata drehen. Sie erzählte von der Macht des Erzählens, vom Schreiben nach einem Anschlag, vom Versuch, aus der eigenen Biografie heraus einen Text zu formen, der mehr ist als Therapie – aber ohne zu verleugnen, dass Schreiben manchmal genau das ist.

In meinem Kopf machte es leise „klick“: Ich sitze in Jerusalem, höre einer Autorin zu, die ihr Trauma in Sprache verwandelt – und merke: Genau deswegen schreibe ich diesen Blog.


Nicht, weil ich denke, dass die Welt auf meine Worte gewartet hat. Sondern weil man sonst innerlich explodiert.


Schreiben ist – auch – ein Versuch, das Feuerwerk im Kopf zu dimmen, ohne das Licht auszumachen.


Beim Mittagessen im Restaurant Modern sprach Regisseur und Theatermacher Avishai Milstein über seine Arbeit. Über ein unabhängiges Theater in Jaffa, über Kunst als Störfaktor, als Gegenfrage, als Möglichkeit, nicht nur Politik zu debattieren, sondern sie zu fühlen.


Er sagte sinngemäß: „Theater ist der Ort, an dem Menschen im selben Raum sitzen und sich gemeinsam etwas zumuten lassen.“

Ich dachte: Genau das tun wir diese Woche. Nur dass unser „Stück“ echt ist.


Im Israel Museum schließlich verschob sich der Fokus noch einmal.

Archäologie, Kunst, Geschichte – von Tonfiguren aus biblischer Zeit bis zu moderner Kunst, die mit all dem spielt, was diese Region an Symbolen hervorbringt. Man könnte Tage dort verbringen. Wir hatten zwei Stunden.


Ich blieb vor dem Modell des alten Jerusalem hängen. Über Tag hatten wir die Stadt in echt erlebt, mit Staub, Lärm, Gerüchen. Hier lag sie im Maßstab 1:50 vor uns.Ein Versuch, Ordnung in das Chaos der Epochen zu bringen.Ein Stadtplan der Sehnsucht.


Es war ein kurzer Moment von Schönheit, von Staunen. Zwischen all den schweren Inhalten dieses Tages fühlte sich das an wie ein Atemzug.


Dann ging es weiter. Bus nach Tel Aviv.


Der Übergang von Jerusalem nach Tel Aviv passiert nicht nur auf der Landkarte, sondern im Kopf.

Jerusalem ist Stein, Erinnerung, Gebet. Tel Aviv ist Glas, Neon, Meer.


Als wir das Herods Hotel erreichten, war die Luft weicher, salzig, der Blick aufs Wasser fast irritierend. Wie kann wenige Kilometer entfernt ein anderes Leben anfangen?

Wir hätten den Tag hier enden lassen können. Mit einem Abendessen, einem Spaziergang am Strand, einem Glas Wein. Aber Tag 3 hatte noch eine letzte, brutale Lektion für uns.


„We Will Dance Again“ – ein Film, der keine Distanz lässt

Der Abend begann mit einer Ansprache, die die Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart zog.


Die stellvertretende Außenministerin sprach über „Nie wieder“ – nicht als Gedenkspruch, sondern als Testfall der Gegenwart. Sie sprach davon, dass Deutschland ein verlässlicher Partner Israels sei, dass „Nie wieder“ nicht nur für Juden gelte, sondern für jede Form von Entmenschlichung. Sie sprach davon, dass es nicht sein dürfe, dass Bildungssysteme finanziert werden, in denen Kinder lernen, dass das Töten von Juden heroisch sei. Sie sagte klar: Erinnerung ohne Handlung sei Zeremonie. Verantwortung ohne Mut sei ein Slogan.


Dann der Satz, der hängen blieb: „Never again ist kein historischer Satz. Es ist ein Auftrag an die Gegenwart.“


Und dann wurde es dunkel im Saal. Der Film begann.


„We Will Dance Again“ – schon der Titel ist eine Zumutung, wenn man weiß um was es geht.

Das erste Drittel ist Licht und Drogenrausch: Ein Festival. Musik. Menschen, die tanzen, lachen, lieben. Sonnenaufgang in der Wüste. Bunte Fahnen, Glitzer im Gesicht, ein Becher an einer Hand, die andere in der Luft. Man sieht Paare, Freundesgruppen, ältere Menschen, Jüngere, eine Atmosphäre von Freiheit, Achtsamkeit, Leichtigkeit.


Einer der Überlebenden sagte später: „Es war das Festival des Jahres. Man ging nicht trotz Gaza hin, sondern wie immer. Da leben Familien, Kinder, da ist Alltag. Wieso sollten wir Angst haben?“


Dann kommen die Raketen. Zuerst klingt es im Film, als würde jemand die Musik stoppen – technischer Fehler, vielleicht. Oder ein Feuerwerk? Die Menschen schauen irritiert Richtung DJ. Dann werden Gesichter ernst.

Was folgt, ist schwer zu beschreiben, ohne dass einem schlecht wird. Das Festival wird abgebrochen. Alle gehen zu den Autos. Trotz Alkohol- und Drogenpegel. Es entsteht ein unendlicher Stau und plötzlich tauchen Terroristen auf.


Der Weg in die Schutzräume. Dieser kleine Betonunterstand an der Straße – fast wie eine klassische (hässliche) Bushaltestelle aus Beton, gebaut für Raketenalarm. Rund 40 Menschen drängen sich hinein. Kaum Platz, keine Luft, Panik. Und das Schlimmste: die Schutzräume haben keine Türen, weil sie für Raketenangriffe gebaut sind. Nicht gegen die Abwehr von Terroristen im heiligen Land.


Sie werfen Handgranaten in den Raum. Immer wieder. Gasgranaten. Scharfe Munition. Menschen fallen übereinander. Schreie, Blut, Rauch.


Eine der Überlebenden erzählte später: Von 40 Menschen überlebten zehn. Sie lag unter 30 Körpern. „Sie sind der Grund, warum ich lebe“, sagte sie. Und: „Als die erste Gasgranate in den Bunker flog, dachte ich nur: Ich sterbe als Jüdin in einem geschlossenen Raum voller Gas. Das war das erste, was mir in den Kopf schoss.“


Dieser Satz hat sich mir eingebrannt. Weil er die Linie von Yad Vashem direkt in diesen Unterstand zieht.


Nach dem Film betraten drei Überlebende die Bühne.


Sie waren Anfang zwanzig, als der Angriff geschah. Heute wirken sie gleichzeitig jung und unendlich alt.


Sie erzählten von diesem surrealen Simchat Tora- bzw. Schabbat-Morgen: Wie der erste Reflex beim Raketenalarm war, den DJ auszubuhen, weil man glaubte, die Musik sei ausgefallen. Wie schnell das kippt, wenn man versteht, dass es kein Fehlstart, sondern ein Angriff ist. Wie sie Richtung Parkplätze rannten, ins Auto, wieder raus, in Felder, durch Staub und Blut.


Einer von ihnen erzählte, wie er nach Stunden der Flucht in ein Dorf kam. Er dachte, seine Freunde seien tot. Dann sah er plötzlich in der Chatgruppe eine Nachricht: „Ich lebe.“

Er rief an. Der andere hob ab. „Du lebst?“ – „Du auch?“


Am Ende trafen sie sich 24,5 Stunden nach dem Angriff wieder.Dieser Moment, sagten sie, habe ihr Leben in ein „Davor“ und „Danach“ geteilt.


Was mich besonders getroffen hat, war, wie sie über die Zeit danach sprachen.


Über die Frage: Wie lebt man weiter, wenn man unter Leichen gelegen, wenn man den eigenen Freund verloren, wenn man Dinge gesehen hat, für die es keine Sprache gibt?


Sie sagten nicht: „Wir sind geheilt.“ Sie sagten: – Wir sind in Therapie. – Wir weinen. – Wir lachen. – Wir arbeiten. – Wir gehen zum Meer. – Wir sprechen miteinander.


„Der beste Therapeut“, sagte einer, „ist manchmal der Freund, der dasselbe gesehen hat und trotzdem noch da ist.“


Und dann erzählten sie von der Welt. Von den Reaktionen. Von denen, die den 7. Oktober relativieren oder leugnen. Von denen, die die Videos als KI-Fakes abtun. Von Demonstrationen, in denen die Täter gefeiert werden.


Man spürte, wie viel verletzter sie von diesem Teil sind als von der Tatsache, dass das Böse existiert.


„Ich hatte gehofft“, sagte einer, „dass die Welt wenigstens sieht, was passiert ist. Und dann siehst du Leute, die sagen, das sei alles erfunden. Das tut weh auf eine Weise, für die ich kein Wort habe.“


Und genau da wurde mir klar, warum unsere Anwesenheit an diesem Abend mehr war als ein Programmpunkt.


Wir saßen im sicheren Hotel. Sie saßen in ihrer Verwundung.


Wir können zurückfliegen. Sie bleiben.


Und trotzdem sagten sie: „Es hilft uns, wenn ihr kommt. Wenn ihr zuhört. Wenn ihr nach Hause geht und erzählt, was ihr gehört habt.“


Zwischendurch stellte jemand die Frage, ob sie das Vertrauen in die Menschheit verloren hätten.


Die Antwort hat mich überrascht: „Nein“, sagte einer. „Ich glaube immer noch, dass Liebe stärker ist. Ich glaube immer noch, dass die Mehrheit der Menschen gut ist. Sonst wäre ich innerlich tot.“


Das war kein kitschiger Spruch, sondern ein trotziges Bekenntnis. So, wie man sagt: „Ich weigere mich, zu hassen, damit der Hass mich nicht frisst.“


Die junge Frau, die mich an meine große Tochter erinnerte, beschrieb, wie sie und Freunde inzwischen versuchen, anderen Gutes zu tun – Häuser zu renovieren, Jugendlichen zu helfen, ihre Umgebung ein Stück heller zu machen. Nicht als Projekt. Als Überlebensstrategie.


„Es geht nicht darum, eine Seite zu wählen“, sagte sie. „Es geht darum, Mensch zu bleiben.“


Als wir den Saal verließen, war es draußen längst Nacht.


Tel Aviv rauschte irgendwo hinter den Hotelwänden weiter. Autos, Strand, Bars, Lichter – das Leben ging einfach weiter.


In mir aber war es still.


Tag 3 war kein Tag, den man „einfach mal so“ verdaut. Er spannte einen Bogen:

– von der vergeblichen Suche nach einem Morgengottesdienst in der Via Dolorosa – über einen Präsidenten, der uns Verantwortung zuspricht – über eine Bibliothek, die Geschichten bewahrt – über Kunst, Theater, Museum – bis zu einem Bunker, in dem Handgranaten explodieren – und drei jungen Menschen, die trotzdem sagen: „We will dance again.“


Ich lag abends im Hotelbett in Tel Aviv und fragte mich:

Was heißt „Nie wieder“, wenn es wieder passiert? Was heißt „Verantwortung“, wenn andere den Preis zahlen? Und was heißt „Wir werden wieder tanzen“, für jemanden wie mich, der hier nur zu Besuch ist?


Vielleicht ist es am Ende ganz simpel:

– Nicht wegschauen. – Nicht schweigen. – Nicht verharmlosen. – Nicht mitlachen, wenn aus Worten Waffen der Spaltung werden.


Der Wille zählt. Ja. Aber er zählt nur, wenn er irgendwann zu guten Taten wird.

 
 
 

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