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Ein Abschied, der keiner sein will

  • christophmatthes86
  • 21. Nov.
  • 8 Min. Lesezeit

Der letzte Morgen in Tel Aviv fühlte sich an wie der Moment nach einem Gewitter: Die Luft war klar, aber schwer. Die Sonne stand über dem Meer, als wäre hier alles normal – dabei hatte diese Woche unser Inneres so sehr durcheinandergebracht, dass „normal“ plötzlich ein Wort ohne Bedeutung war.

 

7:30 Uhr Frühstück, 8:00 Uhr Abschlussrunde, 9:30 Uhr Bus zum Flughafen.

Ein Tag, der nach Routine klingt – und sich doch wie ein Finale anfühlte.

 

Ein Frühstück zwischen zwei Welten

Man sitzt im Hotelrestaurant, rührt im Kaffee, schaut aufs Meer – und weiß gleichzeitig:

Dieselbe Sonne scheint heute auch auf zerstörte Häuser in Nahal Oz.

Auf Fotos im Nova Memorial.

Auf 75 % traumatisierte Kinder in Sderot.

 

Tel Aviv wirkt wie ein Schutzschirm, den das Land dringend braucht.

Ein Ort, der laut lacht, weil er sonst schweigen müsste.

 

Die Abschlussrunde – ein Raum voller unausgesprochener Sätze

In der Final Summary wurde nicht referiert, sondern gespürt.

Jede und jeder von uns trug diese Woche wie eine zweite Haut, und plötzlich bekamen wir die Gelegenheit, einmal laut zu atmen.

 

Was wir hörten, war so ehrlich, dass es jeden in diesem Raum getroffen hat:

„Ihr habt nicht nur Orte gesehen. Ihr habt Menschen gesehen.“

 

In diesen wenigen Tagen hatten wir nicht „eine Delegation“ getroffen – wir hatten Polizistinnen, Künstler, Überlebende, Diplomaten, Mütter, Soldaten, Kinder, Lehrerinnen, Aktivisten getroffen.

Menschen, die mitten in einer Realität leben, für die wir kein deutsches Wort haben.

 

Der Organisator erzählte, wie er uns beobachtet hatte – beim Sprechen, Hinhören, Fragen, beim Volleyballspielen am Strand.

 

Und dann sagte er etwas, das mehr über diese Woche aussagt als jedes Protokoll:

„Wir bringen euch nicht in geschützte Räume. Wir bringen euch zu Menschen.“

 

Das war kein Satz über Logistik.

Das war ein Satz über Vertrauen.

„Bleibt zusammen – ihr seid ein Netzwerk.“

 

Sie sagten uns, dass wir hier etwas gefunden haben, das weit über Israel hinausreicht: eine Gruppe, die miteinander sprechen kann, obwohl alle aus anderen Welten kommen.

 

Es wird ein Wiedersehen geben: 2026, in Berlin.

Nicht als Protokollpunkt.

 

Sondern als Begegnung, die weiterschreibt, was hier begonnen hat.

 

Ein Blick hinter die Kulissen

 

In dieser Abschlussrunde wurde uns auch bewusst, was wir gar nicht gesehen hatten: Menschen, die nachts um zwei noch Mails beantworteten, Teams, die Orte prüften, bevor wir sie betraten, Mitarbeiter, die 15 Länder parallel betreuen und trotzdem jede Minute bei uns waren.

 

Eine der Organisatorinnen wurde so oft angerufen, dass ihr Handy vermutlich eine eigene Delegation hätte gründen können.

 

Es war ein Moment der Dankbarkeit – für Arbeit, die normalerweise unsichtbar bleibt.

 

Die ehrlichste Entschuldigung der Woche

Sie lachten und meinten:

„Und das war die leichte Version des Programms.“

 

Im übernächsten Satz kam die Entschuldigung, dass ein Termin nicht ideal lief.

Aber eigentlich war diese Woche ein kleines logistisches Wunder.

Ein Wunder, das nicht aus Perfektion bestand – sondern aus echter Hingabe.

 

Koffer schließen – Herzen nicht

Nach der Abschlussrunde blieb wenig Zeit.

Zimmer räumen, letzte Blicke zum Meer, Rucksäcke zu, Wasser kaufen.

Der Bus kam pünktlich, aber irgendwie waren wir es nicht mehr.

 

Auf dem Weg zum Flughafen blieb Tel Aviv im Rückspiegel zurück: das Meer, die weißen Häuser, die Palmen, die Menschen mit Kaffee in der Hand.

Ein Land, das gleichzeitig Urlaubspostkarte und Warnsignal ist.

 

Der Flughafen – ein Übergangsort

Ben Gurion ist ein Flughafen, der sich weniger anfühlt wie ein Tor und mehr wie eine Grenze: zwischen dem, was war, und dem, was man mitnimmt.

 

Beim Sicherheitscheck fiel mir der Satz eines Überlebenden wieder ein:

„Es hilft uns, wenn ihr kommt.

Und es hilft uns noch mehr, wenn ihr danach erzählt, was ihr gehört habt.“

 

In diesem Moment verstand ich:

Wir fliegen heim.

Aber unsere Verantwortung fliegt nicht mit.

Die bleibt hier.

Und zugleich reist sie mit uns weiter.

 

Abflug 14:30 – aber nicht zurück in die Normalität

Als das Flugzeug abhob, lag Israel unter uns wie ein Puzzle aus Licht und Schatten.

Es war still im Kabinenraum, viel stiller als am ersten Tag.

Damals waren wir voller Erwartungen.

Heute waren wir voller Fragen.

 

Vielleicht ist das das größte Geschenk dieser Reise:

dass sie uns nicht mit Antworten nach Hause schickt,

sondern mit einem neuen Blick.

 

Ein Blick auf Verantwortung,

auf Geschichte,

auf Gegenwart,

auf Menschlichkeit.

 

Was bleibt nach sechs Tagen?

Vielleicht muss man die Frage umdrehen:

Nicht was bleibt, sondern wer bleibt man, nachdem man sechs Tage in diesem Land verbracht hat.

 

Israel hat mir in dieser Woche drei Dinge gleichzeitig gezeigt:

eine offene Wunde, eine alte Geschichte – und eine Zukunft, die sich weigert, klein zu denken.

 

Ein Land, das seine Wunden nicht versteckt

Nach Yad Vashem weiß ich:

Der Holocaust ist kein „Vergangenheitskapitel“.

Er ist ein Raum, in dem man sich selbst im Spiegel eines Abgrunds sieht.

 

Nach dem 7. Oktober weiß ich:

Terror ist kein abstraktes Wort, sondern eine Reihe von Gesichtern.

Im Nova-Memorial waren es die Gesichter junger Menschen, die aussehen wie unsere Kinder, unsere Freundinnen, unsere Vereinsmitglieder.

An der „Todesstraße“ stand ich nicht vor Geschichte, sondern vor abgebrochenen Biografien.

 

In Sderot, Nahal Oz, am Sapir College habe ich verstanden, dass Trauma hier keine Randnotiz ist, sondern Alltag:

– 12 Sekunden im Kibbutz

– 15 Sekunden in Sderot

– 75 % traumatisierte Kinder

– Raketen, Sirenen, Schutzräume als ganz normale Infrastruktur

 

Und trotzdem:

Diese Menschen definieren sich nicht über das, was ihnen angetan wurde.

Sie erzählen davon – klar, schmerzhaft, ohne Beschönigung.

Aber sie bleiben nicht stehen.

Sie pflanzen Bäume.

Sie bauen Schulen.

Sie gründen Theater.

Sie schreiben Bücher.

Sie tanzen wieder.

 

„We will dance again“ ist kein Spruch auf einem T-Shirt.

Es ist eine Überlebensstrategie.

 

Von einem Mosaik zur Heimat

Vor 80 Jahren war Israel ein Mosaik:

Überlebende aus Europa.

Vertriebene aus arabischen Ländern.

Einwandernde aus der Sowjetunion, aus Äthiopien, aus überall.

Unterschiedliche Sprachen, Bräuche, Liturgien, Küchen, Dialekte.

 

Menschen, die keine gemeinsame Vergangenheit hatten – aber eine gemeinsame Leerstelle:

kein sicherer Ort, an den sie gehörten.

 

Heute triffst du ihre Enkelinnen und Enkel.

Für sie ist Israel nicht Exil, sondern Zuhause.

Hebräisch ist nicht „Wiederbelebung einer alten Sprache“, sondern Muttersprache.

Sie kennen keinen anderen Pass, kein anderes Land, keinen anderen Horizont.

 

Diese Generation lebt in einem Land, das aus Bruchstücken gebaut wurde – und trotzdem ein „Wir“ formuliert hat.

 

Nicht, weil alle einer Meinung wären.

Im Gegenteil:

Israel streitet. Laut, hart, politisch, religiös, sozial.

Aber in allem liegt eine Grundübereinkunft:

Dass dieses Land bleiben soll.

Dass es Heimat ist.

Dass man bereit ist, für diese Heimat etwas zu riskieren.

 

Vielleicht ist das einer der stärksten Eindrücke dieser Reise:

Wie viel Kraft eine Gesellschaft entwickeln kann,

wenn sie sich – bei aller Vielfalt – auf eine gemeinsame Vision verständigt:

Wir sind hier, um zu bleiben.

Und wir sind dankbar, dass wir hier sind.

 

Probleme „wegleben“ – oder: Wie man gegen die Dunkelheit anfeiert

Von außen sieht es manchmal so aus, als würde Israel seine Probleme „wegleben“:

Tel Aviv, Strand, Bars, Musik, Bauhausfassaden in der Abendsonne.

Der Machane Yehuda Market, der nach Gewürzen, Falafel und Zukunft riecht.

Eine Piano-Nacht in Tel Aviv, während im Süden die Sirenen nicht verstummen.

 

Aber nach dieser Woche würde ich sagen:

Sie leben ihre Probleme nicht weg.

Sie leben trotzdem.

 

Lebensfreude ist hier kein Eskapismus.

Sie ist Widerstand.

Gegen Terror.

Gegen Angst.

Gegen das Gefühl, nur noch Opfer zu sein.

 

Im World Jewish Sports Museum hing an jeder Wand die stille Botschaft:

Wir sind nicht nur die, denen etwas angetan wurde.

Wir sind auch die, die Weltrekorde halten, Medaillen gewinnen, aufrecht im Ziel stehen.

 

Bei Moran Samuel habe ich gelernt:

Stärke ist nicht, keinen Bruch im Leben zu haben.

Stärke ist, aus diesem Bruch ein neues Leben zu bauen – und dabei nicht zu verleugnen, was weh tut.

 

Bei Yossi Avni-Levy habe ich verstanden:

Schreiben ist Erinnerung und Verantwortung zugleich.

Es entscheidet, wer sichtbar bleibt und wer verschwindet.

 

Bei den Überlebenden vom Nova-Festival habe ich gespürt: Es gibt eine Form von Mut, die nicht darin besteht, keine Angst zu haben – sondern darin, nach allem, was man gesehen hat, trotzdem zu sagen:

„Ich glaube immer noch, dass die Mehrheit der Menschen gut ist.“

 

„Nie wieder“ ist hier kein Zitat, sondern ein Tagesprogramm

In Deutschland sagen wir schnell:

„Nie wieder“ – und meinen damit meistens „Nie wieder Auschwitz“.

 

In Israel habe ich verstanden:

„Nie wieder“ ist kein Museums-Satz.

Es ist ein Verb.

Es bedeutet:

– wachsam sein, wenn Sprache entmenschlicht

– Grenzen ziehen, bevor aus Worten Taten werden

– Kinder anders erziehen, als es antisemitische Schulbücher tun

– Terror nicht relativieren, nur weil er politisch in ein Weltbild passt

– sich nicht daran zu gewöhnen, dass Menschen Leben zur Verhandlungsmasse machen

 

Yad Vashem hat mir gezeigt, wie lange eine Gesellschaft braucht, um in den Abgrund zu stolpern –und wie früh das anfängt:

mit Karikaturen, Brettspielen, „Witzen“,

mit dem berühmten „man wird ja wohl noch sagen dürfen“.

 

Der 7. Oktober hat mir gezeigt, wie schnell ein Samstagmorgen zur Hölle werden kann, wenn eine Ideologie keine Menschen mehr sieht – sondern nur noch Ziele.

 

Beides zusammen ergibt für mich eine Aufgabe:

Nie wieder ist keine historische Dekoration.

Es ist ein Maßstab für heute.

Für unsere Sprache, unsere Debatten, unsere Grenzen.

 

Was diese sechs Tage mit meinem Blick auf uns gemacht haben

Israel ist in dieser Woche auch ein Spiegel für Deutschland geworden.

Ein Spiegel für die Frage:

Wie gehen wir mit unserer Geschichte um?

Wie ernst nehmen wir Antisemitismus, Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wirklich?

Wo lachen wir noch mit, wo sollten wir längst widersprechen?

Wo sind wir bequem geworden in der Rolle der „Aufgearbeiteten“?

 

Ich habe gesehen, wie ein Land mit unfassbaren inneren Spannungen trotzdem eine gemeinsame Vision formuliert.

Ich habe gesehen, wie sehr Dankbarkeit für den eigenen Staat verbindet – trotz aller Kritik, trotz aller Proteste, trotz aller Demonstrationen.

 

Und ich habe mich gefragt:

Wofür sind wir dankbar?

Welche Vision teilen wir – über Wahlperioden hinaus?

Was wäre unser gemeinsamer Satz, für den wir notfalls auch früher aufstehen würden, als uns lieb ist?

 

Was für mich persönlich bleibt

Sechs Tage Israel haben mir nicht erklärt, „wie es ist“.

Aber sie haben mir gezeigt, wie viel ich vorher nicht gesehen habe.

 

Ich habe gelernt:

– dass Verantwortung nicht aus Schuld entsteht, sondern aus der Freiheit, sich zu entscheiden– dass Erinnerung kein Ritual ist, sondern eine Entscheidung gegen das Vergessen

– dass Lebensfreude in einem Land voller Wunden keine Oberflächlichkeit, sondern tiefster Ernst sein kann

– dass eine Gesellschaft, die sich auf eine gemeinsame Vision einigt, selbst die brutalsten Erschütterungen überstehen kann Vor 80 Jahren war hier fast nichts. Ein Mosaik aus Ankommenden, Überlebenden, Suchenden.

 

Heute ist hier:

– ein Staat

– eine Sprache

– eine Heimat

– eine Bevölkerung, die sagt: Wir sind nicht perfekt. Aber wir sind hier. Und wir geben dieses Land nicht her.

 

Was bleibt nach sechs Tagen?

Für mich:

Nicht das Gefühl, „Israel verstanden“ zu haben.

Sondern die Verpflichtung, davon zu erzählen, was ich gesehen habe.

Hinzuweisen, wenn relativiert wird.

Widerspruch zu wagen, wenn Hass als Meinung verkauft wird.

Brücken zu bauen, wo andere schon wieder trennen wollen in „wir“ und „die“.

 

Und vielleicht das Wichtigste:

Dankbar zu sein für das, was wir haben – und gleichzeitig mutig genug zu werden, es besser zu machen.

 

Israel hat uns gehen lassen.

Nicht unversehrt.

Aber verändert.

Ein Stück wacher.

Und mit der Ahnung,

dass sechs Tage reichen können,

um eine lebenslange Verantwortung zu hinterlassen.

 
 
 

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