Ankunft in einem Land, das sich sofort unter die Haut schreibt
- christophmatthes86
- 16. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Nov.
TAG 1 der Delegationsfahrt nach Israel
Manchmal beginnt eine Reise nicht am Flughafen. Manchmal beginnt sie mit einem einzigen Satz.
Wir hatten gerade unsere Plätze eingenommen, das Flugzeug brummte leise, ein paar Menschen klappten ihre Laptops auf, jemand suchte in der Tasche nach Kopfhörern. Und dann trat der israelische Botschafter in die Kabine. Kein Protokoll, keine große Kulisse – nur ein Mann, der wusste, was diese Reise bedeutete.
Er sah uns an und sagte:
„Ihr seid die Generation, die mit dem Holocaust nichts mehr zu tun hat. Ihr entscheidet, ob es eine Zusammenarbeit zwischen Israel und Deutschland gibt – nicht aus Schuld, sondern weil ihr es wollt. Ich wünsche euch eine gute Reise. Und ich wünsche euch, dass ihr mit mehr Fragen zurückkehrt als mit Antworten.“
Dieser Satz blieb im Flugzeug hängen wie ein zweiter Atem. Ich wusste da noch nicht, wie prophetisch er war.
Ankunft in einem Land, das nicht schläft
Als wir aus dem Flugzeug stiegen, war es, als würde Israel uns nicht nur begrüßen – es würde uns prüfen. Die Luft war warm, trocken, schwer. Und gleichzeitig vibrierte sie von etwas, das ich bis dahin nur aus Erzählungen kannte: dieser ständige Puls aus Geschichte, Bedrohung, Hoffnung und Trotz.
Der Weg nach Jerusalem führte durch eine Landschaft, die sich ständig verändert. Moderne Straßen, karge Flächen, Lichterketten an Hügeln, die aussehen, als würden Menschen versuchen, dem Dunkel etwas entgegenzusetzen.
Es war Abend, als wir das Außenministerium erreichten. Die Architektur warm, völlig anders als erwartet und der Empfang herzlich – aber unter allem lag etwas, das man nicht benennen konnte. Vielleicht Müdigkeit. Vielleicht Schmerz. Vielleicht beides.
Der Empfang im Außenministerium – Musik, die einen Raum verwandelt
Die Halle war hell erleuchtet, diplomatisch, sehr feierlich. Und dann stand sie da:
Yuval Raphael, ESC-Siegerin Israels, mit ihrem Lied „New Day Will Rise“.
Als sie zu singen begann, war es, als würde der Raum kurz seine eigene Zeit anhalten. Diese Stimme war kein Konzert, kein Showmoment – sie war eine Wunde, die Musik geworden war. Ein Lied, das Hoffnung verspricht und gleichzeitig beweist, wie viel Leid erst überstanden werden muss, bevor ein neuer Tag wirklich „rise“ kann.
Und dann sprach sie. Ein paar Worte nur, aber sie reichten.
Sie erzählte, dass sie beim Nova-Festival gewesen war. Nicht als Star. Als Mensch. Als junge Frau, die tanzen wollte.
Sie sprach von Freunden, von Flucht, von Panik, von Geräuschen, die man nie wieder aus seinem Kopf bekommt. Ich hörte zu – und begriff nicht.
Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war. Aber ich dachte in deutschen Kategorien: Amoklauf. Mehrere Einzeltäter. Chaos.
Dass es ein Massaker war – koordiniert, geplant, gewollt – verstand ich erst viel später.
An diesem Abend sah ich nur eine junge Frau, die eigentlich auf Bühnen stehen sollte, aber stattdessen versuchte, Worte für etwas zu finden, für das es keine Worte gibt.
Ein Land zwischen Erschöpfung und unzerbrechlicher Lebenskraft
Während Reden gehalten wurden, während Hände geschüttelt und Fotos gemacht wurden, spürte ich in Gesprächen etwas, das mich völlig unerwartet traf: Der 7. Oktober ist in Israel präsenter als der Holocaust.
Nicht, weil der Holocaust vergessen wurde. Sondern weil das, was am 7. Oktober geschah, jetzt ist. Weil es in jeder Familie lebt. In jeder Stimme. In jedem Atemzug.
Die ältere Generation kennt Verlust aus Geschichtsbüchern. Die junge Generation kennt Verlust aus WhatsApp-Chats, Livestreams und Sirenen.
Und trotzdem – oder gerade deswegen – ist da dieser unglaubliche Wille, weiterzuleben. Der Wille, aus Schmerz Zukunft zu bauen.
Erste Eindrücke Jerusalems – eine Stadt, die in Widersprüchen leuchtet
Auf dem Weg zurück ins Hotel sah ich die Stadt zum ersten Mal bei Nacht. Jerusalem ist keine hübsche Stadt. Aber sie ist eine wahre.
Hinter jeder Ecke liegt etwas, das älter ist als jeder Konflikt. Vor jeder Tür etwas, das verletzlicher ist als jede Politik. Menschen, die lachen. Menschen, die bewaffnet sind. Straßen, die alt sind. Straßen, die neu gebaut wurden, um Anschläge zu verhindern.
Jerusalem ist wie ein Herz, das gleichzeitig Narben und Stolz trägt.
Und ich legte mich ins Hotelbett und merkte: Ich habe heute vieles gesehen. Aber ich habe noch nichts verstanden.
Ein Tag, der erste Fragen weckt – und schon jetzt keine einfachen Antworten zulässt
Tag 1 fühlte sich an wie der Prolog zu einem Buch, dessen Kapitel man nicht selbst ausgesucht hat. Ein Land, das dich anblickt und fragt: „Was glaubst du zu wissen? Und bist du bereit, das alles infrage zu stellen?“
Ich wusste an diesem Abend nicht, dass die nächsten Tage meine Wahrnehmung von Israel, von Palästina, von Angst, Hoffnung, Freiheit, Geschichte und Zukunft komplett neu ordnen würden.
Ich wusste nur:
Der Botschafter hatte recht. Diese Reise begann mit Fragen. Und jede Stunde brachte neue dazu.
Und vielleicht ist genau das der Schlüssel: Dass man ein Land nicht versteht, indem man Antworten bekommt –sondern indem man mutig genug ist, seine eigenen Fragen zuzulassen.
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